20190401

Erna de Vries überlebte neun Monate im KZ. Als Zeitzeugin des Holocaust hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Schulen zu besuchen und über den Nationalsozialismus zu berichten. Am Montag war sie in Twistringen. Foto: Sabine Nölker

Holocaust-Überlebende Erna de Vries spricht im Twistringer Gymnasium über ihre Zeit im Konzentrationslager

Twistringen – „Wo meine Mutter hingeht, da gehe ich auch hin!“ Mit diesen Worten flehte die junge Erna de Vries 1943 einen SS-Mann an, ihre Mutter ins KZ Auschwitz begleiten zu können. Und das, obwohl sie von den Schüssen auf der Rampe, den Transporten in Viehwaggons und den Toten heimlich über BBC gehört hatte. Doch Erna de Vries überlebte Auschwitz. Ihre eindrucksvolle Lebensgeschichte berichtete sie am Montagvormittag den achten bis elften Klassen des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums.

Die 95-jährige Erna de Vries aus Lathen im Emsland hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Schulen zu besuchen und über den Nationalsozialismus und den Holocaust zu berichten. Gemeinsam mit Alois Lögerning, der sie seit vielen Jahren zu ihren Besuchen begleitet, erschien die alte Dame etwas verspätet im voll besetzte Forum.

„Frau de Vries ist ein lebendiges Geschichtsbuch“, kündigte Fachlehrer Jan-Hendrik Melcher an. „Du wirst überleben und erzählen, was er mit uns gemacht hat“, das war der sehnlichste Wunsch ihrer Mutter, als sie sich das letzte Mal gegenüberstanden. Das war Anfang 1944. Und mit diesem Satz begann die Geschichte der Halbjüdin Erna de Vries, geborene Korn.

Als sie 1943 ihrer Arbeit in einer Eisengießerei nachging, kam ein Nachbar, um ihr zu berichten, dass ihre Mutter deportiert werden sollte. „Ich habe so lange gebettelt und gefleht, bis mich die Gestapo mitnahm.“ Zunächst bis zur Brücke, dann doch bis ins Gefängnis nach Saarbrücken und letztendlich auch nach Auschwitz. Sieben Tage habe der Transport gedauert, bis sie ein großes Gebäude im KZ erreichten, die „Sauna“. Man habe ihnen alles abgenommen, Koffer, Kleidung, sogar Brillen. „Dann wurden wir am ganzen Körper rasiert“, so die Erinnerungen.

Es folgte die Tätowierung der Häftlingsnummer auf den Arm. „Von unserem Block zu unserem Arbeitsplatz, einem ehemaligen Fischteich, mussten wir jeden Tag an Krematorium 1 und Krematorium 2 vorbei“ – und an Bergen von Leichen. Denn die Krematorien kamen mit der Verbrennung der vergasten Menschen nicht hinterher. Bei einer ärztlichen Massenuntersuchung war für de Vries klar, dass sie aufgrund unzähliger Phlegmone „aussortiert“, sprich in den Todesblock verlegt werde.

Vier Tage später trat sie den Weg dorthin an, als ein SS-Mann ihre Nummer rief und sagte: „Mann, du hast mehr Glück als Verstand.“ Denn Himmler habe 85 Halbjuden begnadigt, damit sie für die Rüstungsindustrie arbeiten.

Der Abschied von ihrer Mutter war tränenreich. Beide wussten, dass sie sich nie wiedersehen würden. Es folgte der Abtransport nach Ravensbrück, wo sie bis Kriegsende lebte.

Nach der gut 60-minütigen Erzählung hatten die Schüler die Möglichkeit, de Vries Fragen zu stellen. „Allerdings beantwortet sie keine politischen Fragen und gibt auch kein politisches Statement ab“, erklärte Lögering.

„Wie lange waren Sie in Auschwitz?“, kam es aus den Reihen. „Neun Monate.“ Auf die Frage, wie lange es gedauert habe, bis sich ihr Leben normalisiert habe, antwortete die 95-Jährige: „Alleine habe ich es nicht fertiggebracht.“ Vielmehr hätten ihr die Gespräche mit ihrem späteren Mann, auch ein Jude, der seine erste Frau, sein siebenjähriges Kind sowie seine Eltern und Geschwister im KZ verloren hat, geholfen. Letztendlich hätten sie ihre drei Kinder zurück ins Leben geholt.

„Belastet es Sie, die Nummer auf Ihrem Arm zu sehen?“ Auch darauf kam die Antwort sekundenschnell. „Wenn ich sie mir hätte wegmachen lassen, hätte mich die Narbe ebenso täglich an Auschwitz erinnert.“

Ob sie jemals im KZ die Hoffnung aufgegeben hätte, so die Frage einer Schülerin. „Nein, mit 19 Jahren hat man noch Hoffnung auf die Zukunft.“

Für die 17-Jährige Lena, war es „ziemlich interessant, aber auch sehr bewegend“, Frau de Vries persönlich zu hören. „Ich finde es bewundernswert, dass sie es sich zur Aufgabe gemacht hat, trotz ihres hohen Alters Schülern ihre Erfahrungen mitzuteilen.“